Ärztestreik – dümmer geht’s nimmer!
Ich traute meinen Ohren kaum, als ich heute der Ansage des Anrufbeantworters einer augenärtzlichen Praxis aus Bayern lauschte. Folgendes war zu hören:
„Liebe Patientinnen und Patienten! Unsere augenärztliche Praxis beteiligt sich am heutigen, Bayern weiten fachärztlichen Aktions- und Informationstag. Deshalb ist die Praxis heute geschlossen. Wir protestieren damit gegen die fatalen Auswirkungen der von der CDU / CSU / SPD Koalition beschlossenen Gesundheitsreform. Unser Gesundheitssystem, um das uns die ganze Welt beneidet, wird von den derzeit verantwortlichen Gesundheitspolitikern bewußt an die Wand gefahren und ruiniert.“
Wer um Himmels Willen beneidet uns denn in dieser Welt um unser Gesundheitssystem? Togo? Die Menschen im Senegal? Wo in Europa oder im Rest der Welt gab es denn jemals Bestrebungen, eine Kopie dieses hochgradig ineffizienten Systems einzuführen? Ist die Lebenserwartung unserer Bevölkerung signifikant höher als die der anderen Bewohner in ähnlich entwickelten Teilen Europas, die leider nicht in den Genuß eines auch nur annähernd so beneidenswerten Systems kommen? Haben wir weniger Krankentage?
Nun denn, wenn sich dieses System, das hier von einer gewählten Parteien Mehrheit (mit Ausnahme der bayerischen Augenärzte – die scheinen entweder gar nicht, oder nicht diese Politiker gewählt zu haben) bewußt ruiniert wird, in einem derartig morbiden Zustand befindet oder bald befinden könnte, was hält die betroffenen augenfachärztlichen Mediziner davon ab, diesem System den Rücken zu kehren? Eine alte indianische Weisheit besagt: Wenn Du bemerkst, daß Du ein totes Pferd reitest, so steige ab! Ach so, verstanden, es geht ja hier gar nicht um die Sorgen der Ärzte, sondern, wie immer in solchen Fällen, ausschließlich um das Wohl der Patienten – weshalb ja, logisch folgerichtig, auch die Ärzte protestieren, nicht aber die Patienten. Der folgende Teil der Ansage beschreibt die dramatischen Folgen derzeitiger politischer Unverantwortlichkeit der gewählten Verantwortlichen – für die Patienten selbstverständlich; nicht für die Augenärzte.
„Die Folgen für Sie werden sein: Vernichtung der freien, augenfachärztlichen Praxen und damit Wegfall der Wohnort nahen, augenfachärztlichen Versorgung.“
Vernichtung aller freien Praxen? Kann in Deutschland eine Clique verantwortungsloser Politiker einen einzelnen Unternehmer (nichts anderes ist eine augenärztliche Praxis ja), möglicherweise gar einen gesamten Berufsstand vernichten? Eine solche Behauptung entbehrt nicht einer gewissen Lächerlichkeit. Doch es kommt noch besser:
„Wegfall der freien Facharztwahl. Eine staatlich festgelegte Sparmedizin mit unpersönlicher Behandlung in Ambulatorien und anonymen Zentren.“
Diese Behauptung mag unter Zugrundelegung einer Logik des Absurden zutreffend sein – denn wenn es keine freien Fachärzte mehr gibt, kann es selbstverständlich auch keine freie Arztwahl mehr geben – außer der zwischen den einzelnen Zentren. Ob die Politik tatsächlich in der Lage ist, diesen Zustand herbeizuführen, darf ernsthaft bezweifelt werden.
Die zweite Behauptung ist schlichtweg heuchlerisch und sachlich nicht richtig: Unpersönliche Behandlung? Ein einfacher Besuch in einer nach dem Zufallsprinzip ausgewählten Praxis der Mehrzahl (es gibt Ausnahmen!) der Wohnort nahen, freien augenärztlichen Praxen reicht aus, auch dem Laien das ganze Ausmaß unprofessioneller Praxisorganisation, fehlender Prioritäten im Behandlungsablauf, unzumutbar langer (und vermeidbarer!) Wartezeiten, unfreundlicher Ansprache durch überforderte Rezeptionistinnen und Mitarbeiterinnen, ständig besetzter Telefonleitungen und augenfachärztlicher Behandler zu verdeutlichen, die eher auf der Flucht denn in einer Sprechstunde zu sein scheinen. Gesprochen wird ohnehin wenig in dieser sogenannten Stunde.
Absurd und falsch ist ebenso die Behauptung, es gäbe eine staatlich festgelegte Sparmedizin. Es gibt keine staatlich festgelegte Sparmedizin – es hat sie nie gegeben und es wird sie nie geben. Jeder Patient kann schon seit vielen Jahren selbst entscheiden, ob er bei seinem Arzt, gleich welcher Fachrichtung, eine Behandlung wünscht, die nach den Vorgaben der GKV wirtschaftlich, zweckmäßig und ausreichend ist, oder ob er die für ihn nach derzeitigem medizinischen Stand bestmögliche Vorsorge, Diagnose und Therapie in Anspruch nehmen möchte. Unser Gesundheitssystem „spart“ nicht: Es sind jedes Jahr 240 Mrd. € im Topf der GKV. Wenn wir alle am medizinischen Fortschritt teilhaben wollen, dann muß dieser Betrag entweder jedes Jahr aufgestockt werden (was nur über eine Erhöhung der Beiträge zu bewerkstelligen ist) – oder es müssen Leistungen aus dem Katalog der GKV ausgeklammert und in die Eigenverantwortung des Patienten gestellt werden.
Doch um den geht es hier am allerwenigsten: Zu deutlich scheinen Eigeninteressen der betroffenen Ärzte durch, die tatsächlich aus dem GKV Topf einen immer geringeren Anteil ihres Einkommens beziehen können, sich jedoch gleichzeitig weigern, die vielfältigen Möglichkeiten von Wahl- und Selbstzahlerleistungen zu nutzen.
Behandlung in anonymen Zentren? Das klingt düster und nach seelenloser Massenabfertigung – und das soll es ja auch. Kann mir bitte einmal jemand erklären, was an einem „anonymen Zentrum“, das mir eine bessere Parkplatzsituation, bessere Anbindung an den ÖPNV, ein vernünftiges Angebot aktueller Zeitschriften anstelle der Kataloge der vom augenfachärztlichen Behandler präferierten Uhrenmarke oder seiner ausgelesenen Zeitschriften des Titels „Jagd und Hund“ (wahlweise auch „Yacht“), einem Ort also, dessen Inneneinrichtung nicht aus den 70er Jahren stammt, einem Ort, an dem ich als Patient nett und termintreu behandelt und durchaus mit meinem Namen aufgerufen und angesprochen werde, kann mir jemand bitte erklären, was an einem solchen Ort so schrecklich ist?
Sicher, ich werde die Jammerplakate der Kven oder sonstiger angeblicher Vorkämpfer für meine Rechte im dortigen Wartebereich vielleicht vermissen – die haben mir aber ohnehin immer ein schlechtes Gewissen gemacht, ließen Sie mich doch glauben, mit jedem weiteren meiner Besuche den unaufhaltsamen wirtschaftlichen Niedergang des Augenfacharztes voran zu treiben und gaben mir stets ein Gefühl der Hilflosigkeit: Sollte ich diese Praxis zukünftig meiden oder mich, weil vielleicht öffentlichkeitswirksamer, in Anlehnung an ähnliche Aktionen von Greenpeace für vom Aussterben bedrohte Arten, im Praxiseingang festketten?
Die nun folgende Rhetorik schwingt sich dann aber doch noch aus den Tiefen fatalistischen Jammerns ritterlicher Beschützerinstikte für unverschuldet und unerwartet in Not geratene Patienten aus dem Tal der Tränen (stand da nicht gestern noch das Weltklasse System, das seit Jahrzehnten von denselben Personen bejammert worden ist – das, um das uns trotzdem alle Welt beneidet??) zu klassenkämpferischen Höhen auf:
„Wir Augenärzte kämpfen für den Erhalt Ihrer Wohnort nahen, individuellen augenfachärztlichen Versorgung. Wir wollen Sie weiterhin erstklassig versorgen dürfen, Ihnen Ihr gutes Sehen bewahren und Erblindung vermeiden.“
Scheinheiliger geht es kaum noch. Worum hier im Namen des Patienten gekämpft wird, ist schlicht das eigene wirtschaftliche Überleben. Das ist moralisch nicht verwerflich und wird von anderen Berufsgruppen auch getan: Die Mitarbeiter des jüngst geschlossenen Bochumer Nokia Werkes haben für den Erhalt Ihrer Arbeitsplätze gekämpft – und eben nicht für den Erhalt einer Kunden- oder Wohnort nahen Handy Produktion. Wenn man für sich selbst kämpft, dann schafft es sicher ein weitaus höheres Ausmaß an Glaubwürdigkeit, dies auch so zu formulieren.
Sie möchten uns individuell versorgen? Dann halten Sie Ihre Termine ein – das müssen wir nämlich auch.
Sie wollen uns weiterhin erstklassig versorgen? Das können Sie schon seit vielen Jahren – wenn Sie jedem Patienten zumindest die Chance geben, sich für die medizinisch beste Versorgung zu entscheiden. Sprechen Sie doch einfach einmal mit Ihren Patienten darüber. Sie werden überrascht sein: Jeder Patient gibt schon heute 900,- € pro Jahr zusätzlich zu seinen Beiträgen zur gesetzlichen Krankenversicherung für seine Gesundheit aus. Der zweite Gesundheitsmarkt umfaßt ein Volumen von 60 Mrd. € - Tendenz steigend. Solange aber nur jeder vierte Patient auf die Möglichkeiten einer besseren Diagnostik und Therapie hingewiesen wird, bleibt Ihr Geschrei vom Untergang des medizinischen Abendlandes unverständlich.
Wer nicht einmal seiner gesetzlich festgelegten Aufklärungspflicht nachzukommen in der Lage ist, die vorsieht, dem Patienten neben einer Standarddiagnostik und Therapie auch die für ihn bestmögliche Versorgung anzubieten, die selbstverständlich in seiner finanziellen Eigenverantwortung liegt, die er, siehe oben, gern wahrnimmt, der braucht sich nicht zu wundern, wenn sein Unternehmen über kurz oder lang in eine wirtschaftliche Schieflage gerät.
Und bitte hören Sie auf, uns als Patienten auf eine derartig billige und fadenscheinige Art und Weise vor Ihren Karren spannen zu wollen. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, ohne differentialdiagnostischen Hintergrund oder Nennung von Risikofaktoren oder Prävalenzen in bestimmten Altersgruppen rundheraus die Gefahr der Erblindung herauf zu beschwören. Ist das Ihr Verständnis von medizinischer Ethik? Kann mich ein Ambulatorium oder eines der anonymen Zentren etwa nicht vor Erblindung schützen? Haben Sie jeden Ihrer Patienten darüber aufgeklärt, daß die Standard Glaukom Prophylaxe (ausschließlich Druckmessung und Sehnervbefund per Mikroskop) die Diagnose der Entstehung eines Grünen Star nicht mit Sicherheit liefern kann, weil jeder fünfte Patient ein Normaldruckpatient ist?
Haben Sie Ihre Patienten darüber aufgeklärt, daß diese Untersuchung nach heutigem medizinischen Stand lediglich einen Kompromiß darstellt, der nur einen ersten Anhaltspunkt liefern kann? Haben Sie JEDEN Patienten auf die Möglichkeit ergänzender Untersuchungen (Fundusfotografie, Pachymetrie) hingewiesen und ihm zumindest die Chance gegeben, sich für die beste Vorsorge zu entscheiden? Das würde ich unter einer erstklassigen medizinischen Versorgung verstehen – alles andere ist rhetorischer Rauch. Der paßt gut zum Abschluß der Ansage, die mich als empörten und verängstigten Patienten zu den Barrikaden ruft:
„Wir hoffen deshalb, daß Sie uns in unserem Bestreben, diesen Fehlentwicklungen noch rechtzeitig entgegen zu wirken, unterstützen und sich ebenfalls bei Ihren Abgeordneten und Krankenkassen über die gefährlichen Entwicklungen in unserem Gesundheitssystem beschweren. Bitte bedenken Sie – es geht hierbei um Ihre Augengesundheit. Ihr Praxisteam. Eine Notfallversorgung ist sichergestellt. Notdienst haben: ...“
Jawohl, ich werde mich über diesen Instrumentalisierungsversuch beschweren, obwohl der den Sprung vom gedanklichen Flachwasser in den geistigen Tiefsinn deutlich verfehlt. Ich fände es tatsächlich gefährlich, wenn der hier offenkundig vorliegende Fall von Realitätsverlust und Flucht in eine Traumwelt bei größeren Teilen der medizinischen Berufsgruppe zu konstatieren wäre, ganz gleich, um welche Fachrichtung es sich dabei handelt. Dann wäre tatsächlich nicht nur meine Augengesundheit, sondern vielleicht sogar meine Gesundheit insgesamt potentiell in Gefahr.
So bleibt mir die Hoffnung, daß es sich um ein isoliertes Aufflackern dieser Symptomatik handelt. |